2001 Der ganze Mensch – eine Auseinandersetzung mit dem Subjektbegriff

Einleitung

Obwohl kaum denkbar, dass irgendeine Betrachtung, Studie oder welche Art von Auseinandersetzung auch immer, nicht letztlich auf den Menschen zielt, bleibt gerade jener, der Adressat all dieser Botschaften, oft merkwürdig unhinterfragt, merkwürdig blass, merkwürdig mechanisch, merkwürdig unberührt, umhegt von einer beinahe schon entwürdigenden Selbstverständlichkeit, ja versiegelt in einer hoffnungstoten Verdinglichung.

In vielen Theorien und Wissensbereichen spuken Menschenbilder herum, die allzu oft eilig zusammengeschnitten erscheinen und bestenfalls als Begleiterscheinungen, als Restgröße, um nicht zu sagen als Abfallprodukte anfallen. Angesichts der Tatsache, dass wohl keine Theorie und schon gar keine Alltagshypothese ohne ein Menschenbild auskommt, ist es eigentlich sehr erstaunlich, warum man sich noch viel zu wenig um ein geeignetes Konzept bemüht hat und schneller als es dieser „Gegenstand“ erlaubte, mit einem hurtig hervorgezauberten Menschenbild zur Hand ist.

Der Widerspruch ist geradezu frappierend – sind doch diese Menschenbilder meist dem Alltagsdiskurs entnommen (woher auch sonst), und werden oft unreflektiert und undifferenziert, aber ungemein assoziationsreich und dementsprechend schillernd in hoch reflektierte und hoch differenzierte Theorien eingebaut.

Da ließe sich eher noch ein gewisses Verständnis aufbringen, wenn verschiedenen SpezialistInnen aufgrund der andauernden und intensiven Beschäftigung mit ihren Gegenständen die ganze Welt zu eben jenen Gegenständen geworden ist: „Die ganze Welt ist Text“ meinen die LiteraturwissenschaftlerInnen; „Die ganze Welt ist Chemie“ die ChemikerInnen; „Die ganze Welt ist Quelle“ die HistorikerInnen; „Die ganze Welt Mathematik“ die MathematikerInnen; „Die ganze Welt ist Bühne“ hört mensch die SchauspielerInnen rezitieren; „Die ganze Welt ist ein riesiges Unternehmen“ verkünden die Wirtschaftstreibenden; „Die ganze Welt ist Musik“ meinen vielleicht die PhysikerInnen ebenso wie die MusikerInnen, die ganze Welt wird den BiologInnen zum Organismus, den ÄrztInnen zum krankheitsanfälligen Wesen.

Natürlich haben sie alle irgendwo (in ihrem eigenen Bereich nämlich) recht, bringen das Anliegen ihres Bereiches auf den Punkt und doch tun sie der „ganzen Welt“ und speziell den in ihr lebenden Menschen mit ihrer Aussage Gewalt an – korrekter: mit der dazugehörigen Komplementäraussage. Die Gestalttherapie lehrt uns beispielsweise, dass eine Botschaft nicht nur aus der Aussage selbst besteht, sondern auch aus dem, was sie nicht explizit aussagt. Ein Mensch ist zwar chemisch betrachtet „ganz“ Chemie (ich nehme diese Disziplin hier stellvertretend für alle anderen) aber eben nicht alle auftretenden Phänomene sind mit Hilfe der Chemie erklärbar. Dafür, dass sich die Chemie nur mit den Phänomenen beschäftigt, für die sie auch die passenden Interpretationswerkzeuge zur Verfügung hat – was ihr auch nicht zu verübeln ist – kann kein Mensch etwas.

„Der ganze Mensch“ ist also keineswegs der vermessene und völlig unangebrachte Versuch ein ideales Menschenbild zu entwerfen als vielmehr ein verzweifelter Hilferuf: „Der Mensch ist ein Ganzes!“ Jede Reduzierung auf Teilaspekte und die damit einhergehende Verdinglichung tut ihm Gewalt an, wird dem Phänomen Mensch mit all seiner Unabsehbarkeit nicht gerecht. Dieser Text lässt sich deshalb am Besten als Plädoyer für Universalität, für Relativität und für Aufklärung, im Sinne von Ausgang aus der selbstverschuldeten Selbstbegrenzung[1], verstehen. Er ist ein dringender Appell, sich ein möglichst unversehrtes Bild vom Menschen zuzulegen, ein gewisses ganzheitliches Verständnis, bzw. bereits vorhandene Bilder in angemessenen Abständen dahingehend zu überprüfen und zu aktualisieren. Jede unserer Entscheidungen hängt davon ab.[2]

„Über den ganzen Menschen, also den Menschen in seiner Ganzheit, zu schreiben, ist eigentlich eine Lebensaufgabe“, schrieb mir unlängst Leo Warzecha, ein sehr guter Freund und Lebensbegleiter. Ich möchte deswegen kurz meinen biographischen Zugang skizzieren, da er für das Verständnis und das forschungsleitende Interesse vorliegender Arbeit doch einige entscheidende Hinweise liefert.

Die Idee vom „ganzen“ Menschen beschäftigt mich seit mindestens 1983. Als sie mir aufging, schien ich erst richtig zu denken zu beginnen, bekam mein Leben jedenfalls eine entscheidend neue Qualität. In dem Sinn nämlich, als ich damals das Gefühl hatte, ein Problem gelöst zu haben, dass mich bis dorthin mehr oder weniger stark in meinem Denken gefangen genommen hatte und das mit der Frage: „Welchen Sinn gebe ich meinem Leben?“ überschrieben werden könnte. Damals begann ich auch die Ganzheit in meinen Mitmenschen bewusst aufzusuchen bzw. diese in meinen Interpretationen über ihr Wesen maßgeblich zu berücksichtigen.

Letztendlich haben mich die allgegenwärtigen Attributierungen zum Menschen, die fast immer mit einer objektivierenden Reduzierung menschlichen Potenzials einhergingen dazu angestachelt, haben in mir den Drang genährt, eine Lanze für die Gesamtschau zu brechen. Tausendfach seziert und in alle Bestandteile zerlegt, tausende Betrachtungen aus tausenden Perspektiven über den Menschen und doch schien mir oft, dass gerade der Ausgangspunkt der Betrachtungen, der Mensch an sich nämlich, aus den Augen verloren gegangen war.

Marcuses „eindimensionaler Mensch“ geht beispielsweise mit keinem Wort auf den Menschen an sich ein, Gegenstand seiner Studien ist das menschliche Umfeld und die gesellschaftliche Entwicklung, dem der Mensch anscheinend vollkommen hilflos ausgesetzt ist. (Was auch nicht wundern darf, wenn davon ausgegangen wird, dass das gesellschaftliche Sein das individuelle Sein vollständig bestimmt). So selbstverständlich hilflos, dass es sich – weil offenbar für völlig bedeutungslos gehalten – erübrigt, sich auch nur ein wenig damit zu beschäftigen.

Dieser Text versteht sich ausdrücklich als ein politischer.[3] Aber was hat das mit Politik zu tun? Nun – ich operiere mit einem Politik-Begriff, wonach sich Politik als auf Verbindlichkeit abzielende Beziehungsarbeit bestimmt. Egal ob Gesellschaften, Gruppen oder Einzelindividuen miteinander in Beziehung treten, sobald zumindest einer der Beteiligten neue Verbindlichkeiten zu etablieren oder bestehende zu lösen versucht, wird es „politisch“.

Dieser Politik-Begriff ist natürlich durch und durch menschlich geprägt. Befreit von Systemkomponenten lenkt er den Blick auf jene Vorgänge, als deren Ergebnisse Strukturen, Systeme, Verfassungen, Institutionen, Gesetze, Verträge und Vereinbarungen aufscheinen – also Verbindlichkeiten jedweder Art und unabhängig davon, auf welche Weise sie zustande gekommen sind – und die aus dieser Perspektive als postpolitische oder juristische Phänomene anzusprechen sind.

M. E. bewegt sich derzeit der politikwissenschaftliche Mainstream tendenziell eher im postpolitischen Bereich, bestenfalls in der Grenzzone zwischen diesem und dem zentralpolitischen Geschehen. Auf der anderen Seite – also in Richtung der präpolitischen Vorgänge, dort wo schließlich Psychologie und Soziologie aktiv sind, dünnt das Engagement merklich aus und die paar wenigen Psychologen und Soziologen, die sich von ihren Basiscamps aus Richtung Politik aufmachen, finden sich alsbald in einem unwegsamen Gestrüpp vergessener Vorurteile wieder, in dem sich hie und da offenbar schon lange verlassene Begriffsruinen finden – Zeugen davon, dass Politik doch auch immer schon anders verstanden wurde, als es der derzeitige Mainstream nahezulegen scheint.

Politik als auf Verbindlichkeit abzielende Beziehungsarbeit lässt sich auch mühelos zwischen  diesen Disziplinen einordnen: Auf der einen Seite finden sich Psychologie, die die innerpersönlichen Phänomene zu erfassen versucht, und Soziologie, wo die interpersönlichen Beziehungen beschrieben werden, und auf der anderen Seite die Rechtswissenschaften, wo es letztlich um schriftlich fixierte Beziehungsbestimmungen geht bzw. um die Verschriftlichung von Rechtsauffassungen.

Politik bewegt sich nun genau in dem Spannungsfeld zwischen interpersönlichem Beziehungs-Status quo und finalisierter Rechtswirklichkeit. Oder in anderen Worten: Politik beginnt mit einem Anspruch, einem Bedürfnis oder einem sich wie auch immer artikulierenden Anliegen und endet schlimmstenfalls mit einer vollständigen Niederlage einer der beiden Kontrahenten, im günstigeren Fall mit einem Friedensvertrag, einem Gesetz, einem Übereinkommen, einer Vereinbarung – in jedem Fall aber mit einem neuen, zuvor nicht da gewesenen interpersönlichen Beziehungs-Status quo.

Selbst wenn sich am Ausgangszustand letztlich nichts geändert haben sollte, wurde er doch durch die politischen Aktivitäten zusätzlich befestigt, hat neue Bedeutungen gewonnen und wurde eben auf diese Weise verändert. Vermutlich ist es auch dieser wesensessenzielle Charakter des Veränderlichen, der einen wissenschaftlichen Umgang mit den eigentlich politischen Phänomenen überaus erschwert und das Interesse in leichter fixierbare Bereiche abgleiten lässt. Es gilt also zumindest einen einigermaßen befestigten Saumpfad zwischen den bereits wissenschaftlich kultivierten Bereichen zu schlagen. Und es ist auch kein Wunder, dass einem dort nur der Mensch selbst als Bezugssystem[4] bleibt.

Ich schließe mich jederzeit gerne Joseph Marko an, der meint: „In erkenntnistheoretischer Hinsicht liegt [seiner] Untersuchung also eine durchaus »radikale« konstruktivistische Position zugrunde, die davon ausgeht, daß es im Bereich der Sozialwissenschaften keine unabhängige »wirkliche Wirklichkeit« gibt, sondern daß jedes »Faktum« erst im Rahmen einer »Sinnwelt« durch Interpretation verstehend erfahrbar ist“ (Marko 1995, 25f). Bezüglich meiner Zielvorstellungen wiederum schließe ich mich Frederick Perls an: „Das Ziel ist, sich neu zu vergegenwärtigen, daß man in seiner Umwelt produktiv und für seine Wirklichkeit verantwortlich ist – nicht an ihr schuld, aber für sie verantwortlich in dem Sinne, daß man selber derjenige ist, der sie läßt, wie sie ist, oder sie ändert“ (Perls u. a. 1996, 213). Obwohl schon zumindest von Mitschuld gesprochen werden kann, wenn dieser Verantwortung nicht nachgekommen wird.

Es geht hier um Grundlagenarbeit – nämlich um die Klärung eines der wichtigsten Begriffe im menschlichen Zusammensein ebenso wie in der einschlägigen Wissenschaft. Der Mensch-Begriff ist und bleibt – ob bewusst oder unbewusst – ein Eckpfeiler in jedem individuellen Weltbild und damit auch in jeder wissenschaftlichen Arbeit, insbesondere wenn es um die Erforschung soziologischer Systeme geht.

Dementsprechend geben die ersten Kapitel vorliegender Arbeit einen Überblick über die begrifflichen Zugänge (Kapitel 2.1) und eine kleine kursorische Bestandsaufnahme über die Vielfalt der gebräuchlichsten Menschenbilder und Entwürfe (Kapitel 2.2). Im Hauptteil werden dann mögliche Beschreibungszugänge zur Ganzheit des Menschen skizziert, und zwar beginnend mit einem konstruktivistischen Zugang in „Ganzheit und Wirklichkeit“ (Kapitel 2.3.1) über einen eher logischen Zugang (Ganzheit und Widerspruch, Kapitel 2.3.2) und einen eher rechtlichen (Ganzheit und Würde, Kapitel 2.3.3) bis zu einem dialogisch/dialektischen Zugang in „Ganzheit und Beziehung“ (Kapitel 2.3.4). Es muss allerdings nachfolgenden Arbeiten vorbehalten bleiben, allen sich hier ergebenden Gegenüberstellungsmöglichkeiten nachzuspüren und sie zu beschreiben. Es konnten nur einige wenige angedeutet werden.


[1] vgl. dazu auch Kapitel 2.3.3.2

[2] Das wird in Kapitel 2.3.1 genauer ausgeführt.

[3] vgl. dazu auch Kapitel 2.2.1

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Eine Antwort zu 2001 Der ganze Mensch – eine Auseinandersetzung mit dem Subjektbegriff

  1. Christian Apl schreibt:

    Der homo ignorans – Leitbild einer manipulierten Gesellschaft
    Aktualisierte Fassung einer Diagnose

    http://the-babyshambler.com/2011/11/20/der-homo-ignorans-leitbild-einer-manipulierten-gesellschaft/

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